„Richtiger“ Weißabgleich – ein Ammenmärchen
(Video am Seitenende) Um den Weißabgleich wird oft ziemlich viel Tamtam gemacht.
Da gibt es dann lange Tutorials zu dem Thema und Graukarten, die Du speziell für den Weißabgleich verwenden könntest. Oder man bietet Dir spezielle Farbkarten an, um die Farbwiedergabe Deiner Kamera zu testen.
Und Du kannst auch die Geschäftemacher glücklich machen und „spezielle“ und vor allem teure Vorsatzlinsen kaufen, die dann ebenfalls einen besonders präzisen Weißabgleich ermöglichen sollen.
Gerade für einen Fotoeinsteiger erzeugt diess den Eindruck, dass ein möglichst präziser Weißabgleich sehr wichtig ist und man da sehr genau messen muss, um alles richtig machen.
Aber stimmt das überhaupt?
Wenn man sich etwas intensiver mit der Materie beschäftigt, merkt man, dass das präzise Messen der Whitebalance (WB) oft ein ziemlicher Humbug ist. Der „richtige Weißabgleich“ ist eines der Ammenmärchen der Fotografie, einer der großen Fotomythen.
Wie komme ich jetzt zu der Behauptung?
Zurück auf Start.
Gestern [mittlerweile: „Vor einiger Zeit“  ;-) ], bei meinem ersten Sommer-Fotoworkshop in diesem Jahr, wurde ich gefragt, wie das denn mit dem Weißabgleich sei. Der müssen doch immer sehr präzise gemessen und eingestellt werden.
Und schon vorher, auf dem Weg zum Kurs, habe ich im Auto in in einem Podcast (den ich hier nicht näher nenne) gehört, wie wichtig doch der genau gemessene und dann bei der Aufnehme präzise eingestellte Weißabgleich sei. Und am Abend fand ich dann einen Kommentar zu einem meiner Blogbeiträge, in dem es dann auch um das Thema Weißabgleich geht.
Es scheint also gerade in der Luft zu liegen, sich mit dem Weißabgleich zu beschäftigen. ;-)
Woher kommt diese übertriebene Fokussierung auf den „richtigen“ Weißabgleich?
Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Und ich kenne die „wahre“ Ursache natürlich auch nicht. Aber ich kann aufgrund meiner Erfahrung mit den diversen Fotomedien von analog bis online, von gedruckt bis „Hörensagen“ ein paar Vermutungen anstellen.
Fotolehrbücher, Blogs, Videotutorials, Podcasts und Fotokurse werden oft von (semi-) professionellen Fotografen gemacht. Oder sie werden von Amateuren betrieben, die ihr Wissen vorher von diesen Profis erworben haben.
Im professionellen Umfeld gibt es nun einen recht großen Bereich der Berufsfotografie, in dem die präzise Farbwiedergabe eines Kleidungsstücks, eines Möbels oder anderer Gegenstände sehr wichtig ist.
Gerade bei der massenweise nötigen und eher emotionslosen Fotografie für Kataloge und Verkaufsplattformen sollten die Farben dann möglichst präzise dem Original  entsprechen. Damit ist meist eine Betrachtung unter „neutralem“ Sonnenlicht als Referenz gemeint.
Auf diese Art kann man enttäuschte Kunden und kostspielige Umtauschaktionen vermeiden.
Die Stimmung und die über die Farbgebung des Bildes hervorgerufenen Emotionen sind in solchen Produktfotos eher unwichtig oder für die bessere Vergleichbarkeit der Produkte gar unerwünscht.
Deshalb wird bei solchen Abbildungen, die in großen Mengen benötigt und fotografiert werden, sehr auf die „exakte“ Wiedergabe der Farben geachtet. Dazu gehört auch ein größerer Aufwand mit dem Weißabgleich.
Standard spart
Der ganze Prozess dieser Fotografie muss aus Kostengründen möglichst standardisiert am besten schon direkt nach der Aufnahme fertig sein. Es ist gar kein Geld (und damit keine Zeit) vorhanden, bei der Ausarbeitung der RAWs (wenn überhaupt welche verwendet werden) Farbstimmungen differenziert zu steuern.
Bei dieser Fotografie (quasi am Fließband) verwendet man deshalb immer gleiches Studiolicht (auch heute in der Regel wohl immer noch Blitzlicht). Und so entstehen die Produktfotos nur selten in Mischlichtsituationen, die evtl. nach differenzierteren Formen des partiellen Weißabgleichs verlangen.
In diesem Teil der professionellen Fotografie ist also kein Platz (und kein Geld) für einen individuellen Umgang mit Farben.
Wenn nun ein solcher Profi einem Anfänger das Fotografieren erklären soll, liegt es nur nahe, dass er den aus seiner Sicht sehr wichtigen „richtigen“ Weißabgleich bei der Aufnahme erläutern wird. Ihn interessiert die emotionale Komponente der Farbwirkungen in einem Bild in seiner alltäglichen Fotografie ja eher weniger.
Für den Amateur, der vom Profi lernt, ist dieser natürlich eine Instanz, die er nicht in Frage stellen wird. Also setzt er auch für die Landschaftsfotos und Outdoorportraits das vom Profi empfohlene Equipment ein. Unabhängig davon ob es die eher preiswerte Graukarte oder deutlich teuereres Equipment ist, ist es für diese Motive aber unnötiger Aufwand.
Und später, wenn der Anfänger die ersten fotografischen Schritte gegangen ist und er im Umfeld der Freude und Familienangehörigen als „Profi“ gilt, wird er vielleicht genau diese Einstellung zu den Farben im Foto und damit zur vermeintlichen Bedeutung des „richtigen Weißabgleichs“ an die Fotoeinsteiger in seinem persönlichen Umfeld weitergeben.
Schade!
Ein Beitrag zu dem Thema: Unter den Blinden ist der Einäugige König
Der Mensch
Schauen wir uns zuerst mal an, wofür man den Weißabgleich überhaupt braucht.
Das Problem liegt ursprünglich in der visuellen Wahrnehmung des Menschen. Diese unterscheidet sich von dem, was unsere Augen tatsächlich sehen.
Wir Menschen empfinden Farben auch bei unterschiedlicher Farbe der Lichtquelle in bestimmten Grenzen neutral. Das heißt, wir sehen Farben dann so, wie sie unter Sonnenlicht (das ist unsere Referenz) wirken würden. Deshalb scheint für uns ein weißes Batt Papier weiß zu sein, obwohl es von einer gelborangen Glühlampe beleuchtet wird.
Soweit so gut.
Die Kamera
Die Kamera ist aber nur ein technisches Messgerät ohne Empfindung oder „Für-Wahrnehmung“ und sieht die Farben (zumindest in Grenzen) messtechnisch richtig. Sie sieht (oder besser: sie misst), dass das weiße Blatt Papier nur gelb-oranges Licht reflektiert und zeichnet das dann auch dementsprechend auf.
Auf dem Foto würde dadurch (ohne Eingriff in die Ausarbeitung) das Blatt Papier dann durch eine gelb-orange Fläche dargestellt. Und auch alle anderen Farben im von der Glühlampe beleuchteten Teil des Bildes hätten die gleiche Verschiebung. Für einen Menschen würden das sehr ungewöhnlich aussehen, weil es sich nicht mit seiner Wahrnehmung decken.
Das Bild
Das Bild bildet dann messtechnisch „richtige“ Farben ab, diese sind aber nicht wahrnehmungsgerecht.
In den meisten Fällen macht man Fotos aber nicht, um zu untersuchen, welche Farben da draussen vor der Kamera vermeintlich „wirklich“ sind. Dann wären die messtechnisch ermittelten Farben ja sinnvoll.
Vermutlich werden die meisten Fotos vielmehr gemacht, um einem Menschen eine Situation nahe zu bringen, eine Ansicht zu zeigen, eine Stimmung zu transportieren. Und dabei würden die irritierenden „richtigen“ Farbe stören. Deshalb verbiegt (verfälscht) man mit dem Weißabgleich die Farbwiedergabe so, das sie der gefühlten Wahrheit des Menschen nahe kommt.
Nicht messungsgerechte sondern wahrnehmungsgerechte Wiedergabe der Farben ist dann das Ziel.
Richtig falsche Wiedergabe
Den „Blutmond“ der gestrigen [mittlerweile: vorgestrigen ;-) ] Mondfinsternis müsste man, um einen „richtigen“ Weißabgleich zu machen, quasi neutralisieren. Man müsste die rötliche Tönung rausfiltern, um so zu zeigen, welche Farbe der Mond im ungefilterten Sonnenlicht hat. Aber gerade die rote Farbe, die das Sonnenlicht beim langen Weg durch die irdische Atmosphäre als einzige behält, ist ja das Besondere am Blutmond.
Also wäre dann der richtige Weißabgleich der falsche. ;-)
Das gilt aber nicht nur für den eher seltenen Blutmond, sondern zum Beispiel auch für den Sonnenuntergang. Wenn ich da einen richtigen, einen messtechnisch korrekten Weißabgleich machen würde, so wie bei der Glühbirnenbeleuchtung üblich, dann wäre die tolle Stimmung des Sonnenuntergangs weg, denn die Kameraintelligenz würde die Farbigkeit der Situation  falsch einschätzen.
Denn auch auch beim Sonnenuntergang legt das Sonnenlicht ja, wie beim Blutmond, einen sehr flachen und deshalb sehr langen Weg durch die Erdatmosphäre zurück. Dabei verliert es vor allem eine große Menge seiner blauen Anteile. Und wirkt aus diesem Grund so schön warm in Rot-Orange
Und ganz genau diese Art der Farbigkeit wollen wir ja auch später auf den Sonnenuntergangsfotos sehen.
Die Kamera hat nun aber (leider) kein Gefühl. Sie weiß auch nicht, dass uns dieser Rot-Orangeton gefällt. Sie verfährt mit ihrem Computer einfach stur weiter nach Schema F, wenn sie die bei der Aufnahme gemessenen Daten in ein JPEG umwandelt.
Und dabei ist ein Ãœbermaß an Rot-Orange ein Hinweis auf Glühlampenlicht, das muss neutralisiert werden. Und – schwupps – ist der Sonnenuntergang weg.
Die gleiche Überlegung des erwünschten, für den automatischen Weißabgleich aber falsch wirkenden Lichtfarbe trifft auch z.B. für die Bühnenbeleuchtung bei einem Theaterstück oder einem Konzert zu.
Auch hier kann der Auto-WA viel falsch machen.
Komplizierter wird es mit Bildern bei denen Teile des Motivs im Schatten und andere Teile in der Sonne liegen. Der eine Teil des Motivs, der im Sonnenlicht liegt, wird ja „neutral“ beleuchtet. In den „offenen Schatten“ kommt dagegen nur das vom blauen Himmel reflektierte Licht, für das es einen eigenen Weißabgleich gibt.
Da wäre der für die eine Hälfte des Bildes messtechnisch richtige Weißabgleich immer der falsche für die andere Hälfte.
Glücklicherweise gibt es in den RAW-Konvertern lokale wirksame Werkzeuge wie Pinsel und Verläufe, mit denen man dann später am Rechner ausgleichend (oder auch verstärkend) eingreifen kann.
Es wird dann im Schwerpunkt um die Ausarbeitung von RAW-Dateien und um die sinnvolle Verwaltung der Bilder gehen, in erster Linie wird Lightroom (Classic) zum Einsatz kommen.
Natürlich ist auch Zeit für Fragen der Teilnehmer.
Zur Nacharbeit stelle ich umfangreiches Material in Form von Videos zur Verfügung und stehe regelmässig bei meinen kostenlosen (Online-) Fototreffen für Fragen zur Verfügung.
Informationen und Anmeldung
Danke für die Aufmerksamkeit.
Kreativer Umgang
So ein Dilemma will ich nicht bereits endgültig vor Ort lösen müssen. Ich mache deshalb (besser: unter anderem deshalb) meine Aufnahmen in RAW. Denn dann ist der Weißabgleich noch nicht endgültig vorgenommen worden.
Später passe ich dann die Farben bzw. (Ab-) Stimmungen im Bild am Computer frei an meine gestalterischen Vorstellungen und Wünsche an. Manchmal sind diese zu Hause sogar anders als sie bei der Aufnahme vor Ort waren. Gut, dass ich mir mit der RAW-Datei die Option der Anpassung offen gehalten habe. Künstlerische Freiheit!
Und häufig habe ich als Ergebnis sogar verschiedene Weißabgleiche für unterschiedliche Bildbereiche. Bei Landschaftsfotos mag ich den Himmel gerne etwas kälter und die Landschaft im Gegenzug wärmer.
Ganz ähnlich haben es auch schon Landschaftsmaler lange vor der Erfindung der Fotografie gehalten. Schon sie wußten, dass man die im zweidimensionalen Bild eigentlich nicht mögliche räumliche Tiefe durch Farben andeuten kann. Kühle Farben für entfernte Motivbereiche, warme für solche, die nah wirken sollen.
Das muss aber doch nicht sein!
Fotokurs Bildgestaltung . 08.02.25/09.02.25 (Sa./So.) Ein ganzes Wochenende
mit Praxis und Theorie
rund um das bessere Foto.
Und was das überhaupt ist ...
4w
Empfehlung
Als Empfehlung bleibt eigentlich nur, bei der Aufnahme sicher zustellen, das man keine Farbinformationen verliert, die man später für den gestalterisch richtigen Weißabgleich noch brauchen würde.
Also fotografieren in RAW und Weißabgleich Pi-mal-Daumen richtig, dazu reicht bei einigermassen aktuellen Kameras fast immer der automatische Weißabgleich.
Abschliessend
Noch ein wenig Eigenwerbung:
In meinen Kursen zu den Grundlagen der Bildbearbeitung kann ich Dir das Thema Weißabgleich bei der Ausarbeitung der Bilder gerne erklären. Und natürlich ist der Weißabgleich auch ein wichtiges Thema in meinen eintägigen Grundlagen-Fotokursen und in meinem zweitägigen Grundlagenkurs (Zeche Zollverein).
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